Interview über DRM und Zugänglichkeit

Hintergrundinformationen:

Dies ist eine deutsche Übersetzung eines ursprünglich in italienischer
Sprache aufgrund einer Anfrage der SIUG geführten Interviews (Podcast
MP3 Transcript englische Übersetzung) über DRM und Assistive Technologies.
Luca Mascaro und Claude Almansi gehören beide zu der Gruppe, die das
Projekt Accessibilità del Web in Ticino gegründet hat.  Der aktuelle
Anlass für dieses Interview ist die Revision des Schweizer
Urheberrechtsgesetzes, die am 10. und 11. Mai 2007 von der
Rechtskommission des Nationalrats besprochen wird, während die IFPI im
Namen der Musik- und Filmindustrie verlangt, dass die Umgehung von
Nutzungseinschränkungen in jedem Fall und ausnahmslos verboten werden
soll.  Im aktuellen Entwurf ist im Absatz 4 von Artikel 39a
vorgesehen, dass das Umgehungsverbot keine Wirkung haben soll, wenn
die DRM-Umgehung nur für gesetzlich erlaubte Zwecke erfolgt, wie
beispielsweise um einen Text oder ein anderes Werk für Menschen mit
Behinderungen zugänglich zu machen.  Die IFPI fordert, dass dieser
Absatz gestrichen werden solle.  Dies würde das Recht von Menschen mit
Behinderungen auf Zugang zu digitalen Inhalten massiv einschränken.

Noch eine Anmerkung von Claude Almansi zu diesem Interview:  "Wegen
unserer Zusammenarbeit im Rahmen des Projekts Accessibilità del Web in
Ticino gibt es einige Punkte, die wir als selbstverständlich
vorausgesetzt haben, die wir genauer hätten diskutieren sollen, wenn
die Zeit dies zugelassen hätte.  Darum die Fussnoten."

Die Gesprächspartner sind: LM = Luca Mascaro und CA = Claude Almansi.


0:00:00 - 0:00:09 CA
Guten Abend.  Wir werden mit Luca Mascaro über DRM und Zugänglichkeit
sprechen.  Luca, kannst du dich bitte vorstellen?

0:00:09 - 0:00:33.5 LM
Guten Abend, mein Name ist Luca Mascaro, und ich arbeite seit zehn
Jahren im Bereich von benutzerzentrischem Design und der
Mensch-Maschinen-Interaktion, insbesondere bei Computerprogrammen
und Websites.  Ich bin auch Mitglied von verschiedenen internationalen
Arbeitsgruppen von W3C und ISO (dort geht es um internationale
Zusammenarbeit von Firmen und Institutionen zur Ausarbeitung von
Standards) im Bereich von Mensch-Maschinen-Interaktion, Ergonomie und
Zugänglichkeit.

0:00:33.5 - 0:00:46 CA
Kannst du erklären, wie technischen Schutzmassnahmen wie DRM den
Assistive Technologies, die von manchen Menschen mit Behinderungen
verwendet werden, in die Quere kommen?

0:00:46 - 0:01:27 LM
Das ist wirklich einfach zu verstehen.  Die technischen Systeme, die
ein behinderter Mensch verwendet,  Assistive Technologies genannt,
müssen oft auf die tieferliegender Strukturebenen einer Datei
zugreifen können, während wir die Datei einfach lesen oder anhören.
Die Assistive Technologies müssen feststellen, wie die Datei aufgebaut
ist, und sie dann richtig interpretieren, das heisst in einer Art und
Weise interpretieren, die an den behinderten Menschen angepasst ist.

In der Regel blockieren DRM-Systeme diesen Prozess, weil aus der Sicht
des DRM-Systems die Assistive Technology nicht von irgend einer
unautorisierten Nutzung oder irgend einem unautorisierten Programm
unterschieden werden kann.  Darum werden immer wieder Assistive
Technologies von DRM-Systemen blockiert.  Es gibt da sehr viele
verschiedene mögliche Kombinationen von Assistive Technologies und
DRM-Systemen, wo manchmal die Assistive Technologies trotz DRM noch
funktionieren und manchmal nicht.


Der Kostenfaktor

0:01:27 - 0:02:50 LM
Allerdings --und es ist wichtig, das festzuhalten-- könnte man sagen,
dass dies heute nicht mehr so ist.  Wenn nämlich jemand die neuesten
technischen Hilfsmittel verwendet, und sie auf Dateien mit den
neuesten Versionen der DRM-Schutzmassnahmen anwendet, dann tritt
dieses Problem nicht auf.  Es gibt da aber Marktfaktoren.  Assistive
Technologies können zehntausende von Franken kosten, dass heisst,
manche kosten so viel.  Im Durchschnitt kosten manche Assistive
Technologies 4000, andere um 10000 Franken.  Auf jeden Fall geben
manche Leute ganze Monatslöhne aus, um diese Technologie zu kaufen.
Manche können es sich einfach nicht leisten, die neuesten Updates
anzuschaffen.  

Übrigens wurde kürzlich eine Untersuchung durchgeführt über die
Assistive Technology, die von blinden Menschen am meisten verwendet
wird, das ist ein von einer US-Firma hergestellter Screenreader.
Der hat jetzt Version 6.0 oder 6.5 erreicht... nein, Version 7.0
ist herausgekommen.  Aber die meisten Nutzer haben immer noch Version
4.5 oder 3.5.


Beispiel: DRM-blockierte PDFs

Um ein praktisches Beispiel zu nehmen:  Ein DRM-blockiertes PDF kann von
einer Assistive Technology nicht gelesen werden, die Assistive
Technology kann nicht bis hinter die DRM-Blockade vordringen, so wie
wenn das PDF ein Bild wäre.

0:02:50 - 0:02:57.7 CA
Manchmal bekommt man PDF-Dateien, die wie Fotografien aussehen.  Ist
das auch wegen einer Art von Kopierschutz?

0:02:58 - 0:03:17.5 LM
Solche Dateien können auf zwei verschiedene Arten erstellt werden:
Entweder indem man ein altes PDF-Programm mit einer Kopiersperre
verwendet, oder es handelt sich um schlecht gemachte Scans von
Papierdokumenten.  Zum Beispiel hat vielleicht jemand mit Word einen
Brief geschrieben, diesen dann gescannt und als PDF exportiert.

0:03:17.5 - 0:03:23.5 CA
Das heisst, die Person, die das gescannt hat, hat "speichern als
fotografisches PDF" ausgewählt?

0:03:23.5 - 0:03:24.5 LM
Genau.

0:03:24.5 - 0:03:31.5 CA
Ah, das ist was mit all den Stellungnahmen zur Revision des
Urheberrechts passiert ist.

Wieder-Scannen mit OCR

0:03:31.5 - 0:04:26.5 LM
Ich kenne diesen konkreten Fall nicht, aber ja, das bedeutet dass
keines dieser Dokumente von einer blinden Person verwendet werden kann
-- oder, genauer gesagt, es gibt da eine Umgehungsmöglichkeit, den
guten, alten Trick, den Blinde seit 20 Jahren verwenden:  Sie scannen den
Scan nochmals.  Nun, was machen blinde Menschen mit Büchern, mit
gedruckten Büchern?  Sie sannen sie, und dann verwenden Sie ein
OCR [2] genanntes Computerprogramm, das den Text erkennt.  Diese
Software wandelt die Scans in Textdateien um.  Und von diesem Punkt an
können blinde Menschen sich die Textdateien dann anhören.  Im Fall
von PDFs haben Blinde zwei Möglichkeiten:  Entweder direkt OCR auf das
PDF anwenden, oder wer kein OCR-Programm hat, das PDFs bearbeiten kann,
kann die PDF-Datei ausdrucken und dann wieder einscannen und sich dann
den Text anhören. 

0:04:27.7 - 0:04:44 CA
Würde dies auch mit den neuen Formen von DRM-Schutz funktionieren?

0:04:44 - 0:04:50 LM
In diesem Fall ist es nicht so sehr eine Frage eines technischen
Schutzes, in diesem Fall wäre es technisch einfach den DRM-Schutz zu
entfernen und das PDF direkt mit OCR zu scannen.  Aber der DRM-Schutz
erlaubt das nicht.


Die IFPI-Forderung (URG-Revision)

0:04:50 - 0:05:12.5 CA
Aber das bedeutet, dass die Forderung der IFPI nach Streichung des
Absatzes, die DRM-Umgehung erlaubt wenn andere Teile des
Urheberrechtsgesetzes die Erstellung von Kopien erlaubt [3], ein
schwerwiegendes Problem darstellt?

0:05:12.5 - LM
Nun, ich bin kein Rechtsexperte.  Was ich sage ist einfach dies:  Für
Menschen mit manchen Arten von Behinderungen, mit manchen Arten von
Assistive Technologies, muss man DRM-Schutz entfernen, und es ist
nötig ungeschützte Kopien zu erstellen, damit sie den Inhalt nutzen
können, ob es jetzt Audio, Video oder Text-Inhalte sind.  Zum
Beispiel, wenn wir von Audio-Video Inhalten reden:  Man kann eine
DRM-geschützte Audio-Video Datei nicht mit Untertiteln versehen.  Wir
können auch über OCR von Textdateien reden, über die Unmöglichkeit,
sich geschützte Textdateien anzuhören.  Wie gesagt, ich bin ein Nutzer
von Assistive Technologies, kein Rechtsexperte.  Aber was ich einfach
sage ist dass es ein Segment von Nutzern gibt, die darauf angewiesen
sind DRM umgehen zu können, damit sie nutzen können was sie gekauft
haben, oder sogar damit sie überhaupt studieren können, im Fall von
manchen behinderten Studenten.

Hier reden wir nicht davon, Hindernisse zu beseitigen, oder davon,
riesige Investitionen zu machen, um Hindernisse beseitigen zu können.
Nein, wir machen ein Gesetz, das das Gegenteil von der Beseitigung von
Hindernissen macht.  Und wenn ein Gesetz das macht, wenn das Ziel der
Gesetzesänderung der Schutz von Hindernissen ist, dann sollte das
Gesetz wenigstens korrekt die Rechte derjenigen Menschen beachten, die
durch diese Hindernisse an der Nutzung von Dateien gehindert werden.



Anmerkungen

[1] Siehe die PDFs unter http://www.ige.ch/D/jurinfo/j10301.shtm
    Stellungnahmen betr. Vernehmlassung zur Revision des Urheberrechtsgesetzes.

[2] OCR: Texterkennung oder auch Optische Zeichenerkennung, die
    Abkürzung OCR kommt von engl. Optical Character Recognition.
    Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Texterkennung

[3] Betreffend der Forderung von IFPI Schweiz (http://www.ifpi.ch)
    siehe der Offene Brief vom Konsumentenschutz vom 16. April 2007
    "Jüngste Entwicklungen im Online-Musikmarkt machen
    Gesetzesverschärfungen überflüssig"
    http://www.konsumentenschutz.ch/content/positionen_medien_ifpi.html?SID=74481ec4640dc6808277951adfede306&contentUrl=../de/dyn_output.html?content.vcid=6&content.cdid=18495
    und die Medienmitteilung der SIUG vom 9. Mai 2007:
    "Sehbehinderten droht Diskriminierung durch DRM"
    http://siug.ch/URG/Medienmitteilung-2007-05-09